Leseprobe: Das Ewigkeitsprojekt


 

Kapitel 1

 

 

Es ist schwer zu sagen, ob es der Tag war, an dem mein Leben endete oder ob es an diesem Tag begann, aber in jedem Fall war es ein ziemlich großartiger Frühlingsmorgen. Sonnenstrahlen. Blauer Himmel. Alles dran.

Ich hätte das Ganze allerdings mehr genossen, wäre da nicht dieses fiese Gefühl von Watte in meinem Kopf gewesen. Die Welt um mich herum wirkte ein wenig gedämpft. Zu leise. Ich setzte mich langsam auf und schüttelte den Kopf, doch das klebrige, lästige Wattegefühl ließ sich davon nicht beeindrucken. Vermutlich die Grippe, wagte ich mich an ein wenig Selbstdiagnose und eigentlich hätte ich wissen sollen, dass Schütteln dagegen nur mäßig hilft. Während die Welt um mich herum noch damit beschäftigt war, sich heimtückisch zu drehen, ließ ich mich in die Wärme meines Betts zurück sinken und tastete mit halb geschlossenen Augen nach dem Wecker. Halb sechs. Das war gut. Sehr gut sogar. Damit konnte ich mir noch zehn Minuten lang die Decke über den Kopf ziehen. Als Professorin war Zuspätkommen zur Vorlesung ja eher ungünstig.

Unter dem Schutz der Decke schob ich mich langsam ein wenig nach rechts, um mich für ein paar Augenblicke an meinen Mann zu schmiegen, doch auf der anderen Bettseite fand ich nichts als ein leeres Kissen und glattgebügelte Ordnung. „Was zum …“, dachte ich mir noch etwas schwerfällig, setzte mich auf, verfluchte die immer noch viel zu aufdringlichen Sonnenstrahlen und starrte die leere Bettdecke an. Perfekt gefaltet. 5-Sterne-Hotel-perfekt. Das war unerwartet. Nikolai hatte eine Menge guter Eigenschaften, aber sich leise durch das Leben oder auch nur bis zur Schlafzimmertür zu bewegen, gehörte eigentlich nicht dazu. Normalerweise wachte ich allein schon von der Art auf, wie er seine Decke zurückschlug. Wie um alles in der Welt hatte er es geschafft, direkt neben mir sein Bett zu machen, ohne mich dabei zu wecken?

Im ganzen Haus war kein Geräusch zu hören. Keine Dusche. Keine Schritte. Nichts. Ich schüttelte noch einmal den Kopf, um das eigenartig gedämpfte Gefühl zu vertreiben, und schwang dann meine Füße aus dem Bett. Der Boden war eiskalt. Eine Sekunde später war mir das allerdings vollkommen egal, denn in diesem Augenblick fiel mein Blick auf die leere, weiße Wand gegenüber dem Bett. Mit einem Schlag war ich hellwach.

Nikolai hatte, ohne mich zu wecken, noch viel mehr getan, als die Fähigkeit des lautlosen Bettenmachens zu entwickeln. Er hatte mich von Tante Bettys Hochzeitsgeschenk - einem scharlachroten Öl-auf-Leinwand-Monstrum, das fast die ganze Wand eingenommen hatte - erlöst. Tante Betty hatte uns „Rote Leidenschaft“ stolz als Höhepunkt ihrer soeben erst begonnenen Künstler-Karriere präsentiert. „Bedauerlicherweise verschütteter Farbkübel“ wäre allerdings ein weitaus passenderer Name gewesen. Seit dem Tag unserer Hochzeit war es jeden Morgen das Erste gewesen, was ich gesehen hatte, und jeden Morgen hatte ich es ein wenig mehr gehasst. Und nun war da, ganz ohne Vorwarnung, ganz einfach nichts weiter, als eine weiße Wand. Ich konnte mein Glück kaum fassen, dass er so sehr über seinen Schatten gesprungen war und mich von dem grässlichen Ding befreit hatte. Mit einem Lächeln, das selbst einem Morgenmenschen alle Ehre gemacht hätte, machte ich mich auf den Weg in die Küche und auch das gedämpfte Gefühl in meinem Kopf konnte meine Laune nicht trüben. Falls mich tatsächlich die Grippe erwischen sollte, dann würde ich zumindest ein paar Tage lang eine wundervolle Aussicht auf eine weiße Wand haben.

 

In der Küche war von Nikolai keine Spur zu sehen, aber das war im Gegensatz zum Rest des Morgens weniger überraschend. Nikolai nahm normalerweise den Tag in Angriff als gäbe es Bonuspunkte dafür, die 24 Stunden als erster erledigt zu haben. Eine gemeinsame Tasse Kaffee mit mir und eine schnelle Dusche war alles, wofür er sich Zeit nahm und vermutlich hatte er ohne mich auch die Sache mit dem Kaffee übersprungen. Ich dagegen würde ohne eine anständige Portion Koffein nichtmal die Haustür erreichen.

Ich beschloss, meinen Kaffee am Küchenfenster zu trinken, und nahm meine Lieblingstasse aus dem Schrank. Als ich nach der Kanne griff, stellte ich allerdings fest, dass sie leichter war als erwartet. Kein Wunder, denn sie war absolut leer. Ich blinzelte in die hellen Sonnenstrahlen und begann mir Sorgen zu machen.

Seit unserer ersten gemeinsamen Nacht hatte Nikolai Kaffee zu seiner Mission erklärt - ritterlich, entschlossen und mit einem amüsierten Zwinkern. Ich hatte damals ohne mit der Wimper zu zucken seinen Kühlschrank mit nichts als Bier, Batterien und Tütensuppen zur Kenntnis genommen, aber als er mir seelenruhig erklärt hatte, dass er keinen Kaffee im Haus hätte, war es mir schwer gefallen, mein Entsetzen zu verbergen. Nikolai hatte sich das zu Herzen genommen und er war kein Mann, der halbe Sachen machte. Als er letzten Monat ein paar Tage nach Norwich musste, um die Installation eines neuen Reaktorkerns zu beaufsichtigen, war er trotz meiner Proteste sogar so weit gegangen, einen Zustelldienst zu organisieren. Jeden Morgen, pünktlich um halb sieben, hatte ich einen perfekten Cappuccino auf der Türschwelle vorgefunden. Welche Frau hätte ihn daraufhin nicht geheiratet?

Ratlos griff ich nach der leeren Kanne. War das unser erster Streit? Und falls ja, warum hatte ich dann nicht den Hauch einer Ahnung, worum es dabei ging? Gestern Abend war die Welt noch in Ordnung gewesen. Mandarin-Ente von unserem Lieblingschinesen, zwei Folgen von Doctor Who und kein böses Wort. Das Ganze ergab einfach keinen Sinn. Noch weniger Sinn ergab nur, wieso er sich mitten in einem Streit dazu durchringen sollte, das Bild zu entfernen. Leicht war ihm das bestimmt nicht gefallen. Er war zwar Wissenschaftler und logisches Denken sein tägliches Brot, aber bei dem Aberglauben, mit dem ihn seine Großmutter von klein an geimpft hatte, endete diese Fähigkeit abrupt.

„Hochzeitsgeschenke muss man in Ehren halten, Schatz. Auch die Scheußlichen“, hatte er mir erklärt als ich die Sache mit dem Bild damals vorsichtig angeschnitten hatte und sein besorgter Blick hatte mich davon überzeugt, mich mit dem roten Monster abzufinden. Vermutlich hatte er jahrelanges Pech befürchtet, falls wir das Ding einfach entsorgt hätten. Und jetzt? Einfach so weg damit? Was ich jetzt noch dringender brauchte als eine Tasse Kaffee, war ein Gespräch mit meinem Mann. Ich griff nach meinem Handy, doch alles, was ich zu hören bekam, war Nikolais Mobilbox. 

Langsam goss ich Wasser in die Kaffeemaschine, atmete tief durch und versuchte, eine Erklärung für diesen Morgen zu finden. Das Geräusch des langsam durchlaufenden Kaffees fühlte sich allerdings nicht annähernd so beruhigend an wie sonst, und schon nach wenigen Schlucken stellte ich die Tasse zur Seite. Auf dem Weg ins Bad tröstete ich mich mit dem Gedanken, dass Nikolai bestimmt bald zurückrufen würde. Das tat er immer. Das verlangte sein ritterlicher Instinkt, zur Stelle sein zu wollen, falls ich ihn brauchte.

 

An diesem Morgen blieb mein Handy jedoch stumm. Es blieb stumm, während ich im Bad unter der Dusche stand, und es blieb ebenso stumm, als ich es nicht aus den Augen ließ, während ich lustlos eines meiner Sommerkleider aus dem Schrank holte und meine blonden Locken zu einem Zopf bändigte. Normalerweise erledigte Nikolai morgens als erstes den Papierkram, und das war nichts, das ihn davon abhalten würde, mich anzurufen. Ich ließ mich aufs Bett sinken, warf der rätselhaft leeren Wand einen nachdenklichen Blick zu und wählte seine Nummer noch einmal. Wieder nur die Mobilbox.

Ich beschloss, dass es höchste Zeit für ein wenig Vernunft war. Wenn ich in diesem Zustand meinen Hörsaal betrat, würde ich nicht einmal „Acetylsalicylsäure“ fehlerfrei an die Tafel schreiben. Ich versuchte mich davon zu überzeugen, dass es wohl das Beste wäre, diesen wundervollen Morgen für einen kleinen Umweg auf dem Weg zum Bahnhof zu nutzen. Vielleicht durch die Allee, wo um diese Zeit die ersten Frühlingsblumen blühten. Ja, das wäre genau das Richtige, um den Kopf frei zu bekommen. Im Grunde genommen war es wohl etwas übertrieben, mir wegen einer leeren Kaffeekanne Sorgen zu machen. Was auch immer Nikolai heute Morgen durch den Kopf gegangen war, er würde sich bestimmt bald melden.

 

Als ich wenige Augenblicke später die Haustür öffnete vergaß ich allerdings mit einem Schlag jeden Gedanken an Nikolai und die Kaffeekanne. Ich war vollkommen damit beschäftigt, mit offenem Mund auf die Straße vor mir zu starren - oder vielmehr auf das, was ich von ihr erkennen konnte. Was vom Küchenfenster aus vor nicht einmal einer Minute noch wie ein perfekter Frühlingstag ausgesehen hatte, war nun ein einziges, undurchdringliches Nebelmeer. Das war verflucht noch mal mit Abstand der schnellste Wetterumschwung, den ich je gesehen hatte. 

Zögernd trat ich in den Vorgarten. Es war, als hätte jemand die Welt in trostloses, schmutziges Weiß getaucht und alles, was mehr als ein paar Meter von mir entfernt war, konnte ich nur noch erahnen. Auf den kleinen Umweg würde ich verzichten. Definitiv.

 

 

 

 

Kapitel 2

 

Langsam begann ich die Straße in Richtung Bahnhof entlang zu gehen und obwohl ich mir einzureden versuchte, dass das hier nur ein ungewöhnlicher Wetterumschwung war schlug mir das Herz bis zum Hals. Alle meine Sinne waren in Alarmbereitschaft, was mir allerdings inmitten dieser undurchdringlichen, weißen Suppe nicht viel half. Meine Schritte hallten viel zu laut durch die Allee, und das war auch das Einzige, das ich hörte. Außer mir schien an diesem Morgen niemand unterwegs zu sein. Dabei war es Montag! Eigentlich sollten sich gerade jede Menge Leute auf den Weg zur Arbeit machen. Aber da war nichts. Nicht einmal ein Auto war zu hören. Ich warf einen kurzen Blick hinter mich, von meinem Haus war schon nach den wenigen Schritten nichts mehr zu sehen. Einen Augenblick lang war ich versucht umzukehren, aber bis zum Bahnhof war es nur ein kurzes Stück die Straße entlang, und ein bisschen Nebel war wohl kein Grund, die Nerven wegzuschmeißen. Gut, ziemlich viel Nebel. Trotzdem kein Grund.

 

In diesem weißen Niemandsland fühlte es sich an, als würde der Weg zum Bahnhof eine halbe Ewigkeit dauern. Als wäre ich der letzte Mensch auf Erden. Meine Hand tastete in der Tasche nach meinem Handy, und ich zog sie zitternd wieder zurück, als ich mich daran erinnerte, dass ich es nicht eingepackt hatte. Es lag immer noch im Schlafzimmer. Brillante Idee, es ausgerechnet heute zuhause liegenzulassen. Ich hätte jetzt wirklich gerne Nikolais Stimme gehört. Oder die von irgendjemandem. Verflucht noch mal, dieser Nebel machte mir langsam richtig Angst.

Bis zum Bahnhof konnte es allerdings nicht mehr weit sein. In höchstens fünf Minuten würde ich mit Thommy Rodgers, Kate und den anderen Pendlern über das verrückte Wetter lachen. Denn mehr war es nicht. Einfach nur ungewöhnliches Wetter. 

Ich konzentrierte meine Gedanken auf den Bahnhof und blinzelte angestrengt in das weiße Nichts vor mir. Jeden Moment würde ich ihn sehen können. Jeden Moment. Im nächsten Augenblick konnte ich tatsächlich die Umrisse des kleinen Bahnhofs durch den Nebel schimmern sehen und alles, was mir eben noch durch den Kopf gegangen war, erschien mir plötzlich ziemlich lächerlich. Die Nebelschwaden umschmeichelten das alte Bahnhofsgebäude fast zärtlich und mit seinem frisch restaurierten schmiedeeisernen Stiegenaufgang wirkte es in diesem Moment wie das perfekte Postkartenmotiv. Falls man der Typ war, der solche Postkarten mochte. Zugegeben, der war ich nicht, trotzdem kam mir der kleine Bahnhof in diesem Moment wie das gelobte Land vor und ich nahm mit einem breiten Lächeln zwei Stufen der alten, kleinen Treppe auf einmal.

 

Mein Lächeln verschwand allerdings, als ich den Bahnsteig betrat. Normalerweise warteten um diese Zeit mindestens ein Dutzend anderer Fahrgäste am Bahnsteig, doch dieser Morgen schien nicht viel übrig zu haben für „normal". Der Bahnsteig war vollkommen verlassen. Nicht einmal die Tauben waren zu sehen, die hier sonst gierig um die Brotkrumen kämpften, die die Fahrgäste von ihrem Frühstück verstreuten. Charlies Bäckerei befand sich direkt neben dem kleinen Bahnhofsgebäude und der Duft der handgemachten Croissants lud morgens viele zu einem kurzen Abstecher ein, während sie auf den Zug warteten. Ich konnte die Umrisse der Bäckerei nur undeutlich durch den Nebel erkennen, aber es war nicht zu übersehen, dass dort kein Licht brannte. Nicht einmal das altmodische Emaille-Schild mit dem Croissant schien beleuchtet zu sein. Das war so falsch, wie nur etwas falsch sein konnte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass Charlie jemals an einem Morgen nicht geöffnet hatte. Selbst an Feiertagen war er immer für seine Kunden da, denn er meinte stets lachend: „Was wäre ein Feiertag ohne Kuchen?". Doch an diesem Morgen hatte Charlies Bäckerei geschlossen, und aus irgendeinem Grund war der Bahnhof vollkommen verlassen. Bis auf mich.

Mit jeder Sekunde, die ich länger auf dem verlassenen Bahnsteig stand, kam mir das wie eine ziemlich schlechte Idee vor. Endstation ging mir durch den Kopf und es hatte einen grässlichen Beigeschmack. Ich musste hier weg. 

Ohne länger zu zögern, lief ich über die Gleise zurück in Richtung der Häuser. Erst später wurde mir klar, dass eigentlich genau in diesem Moment der Sieben-Uhr-dreißig-Express einfahren hätte sollen, und ich an jedem anderen Tag mit diesem Sprint auf den Gleisen alle Sorgen für immer losgewesen wäre. Doch Hills View gehorchte nun anderen Gesetzen als dem Fahrplan.

 

 

 

 

Kapitel 3

 

Ich lief die Straße entlang, und die hohen Birken, die den Rand säumten, schienen den Nebel mit ihren dürren Ästen noch dichter zu mir herunterzuziehen. Und, verdammt, es kam mir so vor, als hätten sie tatsächlich Erfolg damit. Mit jedem Schritt konnte ich weniger in den Nebelschwaden erkennen, und als ich das erste Haus der Siedlung erreicht hatte, war ich mir sicher, keinen Augenblick länger hier draußen ertragen zu können. Zumindest nicht, ohne tatsächlich anzufangen, an bösartige Birken zu glauben. 

Das Haus, an dessen Gartenzaun ich mich völlig außer Atem lehnte, gehörte Mike Millers, und als mir das klar wurde, fühlte ich eine warme Welle der Erleichterung in mir hochsteigen. Meine panische Flucht vor dem leeren Bahnsteig hätte mich zu keinem besseren Ort führen können. Es war noch ziemlich früh, um bei Mike zu läuten, aber zum Teufel mit Dingen, die man sonst um diese Uhrzeit nicht tat. Ich konnte das Geräusch der Türglocke im Inneren des Hauses widerhallen hören und versuchte, den Nebel nicht zu beachten, während ich meinen Blick fest auf die Tür gerichtet hielt. Mike würde mit Sicherheit wissen, was hier los war. Als ehemaliger Marine hatte er einen ziemlich guten Instinkt für Ärger.

Im Haus schien sich allerdings nichts zu rühren. Ich klingelte noch einmal und hielt dabei den abgegriffenen kleinen Knopf länger gedrückt, als ich so etwas jemals zuvor getan hatte, doch niemand kam die Treppe herunter, um sich darüber zu beschweren. Keine Schritte. Kein Licht. Kein Mike. 

Ich warf den dunklen Fenstern einen letzten Blick zu und versuchte mich mit dem Gedanken anzufreunden, weiter durch den Nebel zu laufen. Aber wohin? Wohin sollte ich gehen? Zurück zum Bahnhof und auf einen Zug warten? Nein, es gab bestimmt einen guten Grund, warum er so verlassen war wie ein Friedhof kurz vor Mitternacht. Himmel, warum dachte ich an so etwas? Dieser Nebel. Dieser verdammte Nebel. Zitternd versuchte ich mich an ein paar ruhigen Atemzügen. Soll ja helfen. Sagt man. Aber egal wie viel ich atmete, einfach nach Hause zu gehen schied definitiv aus. Bis zu meinem Haus wären es zwar nicht mehr als zehn Minuten, aber zehn Minuten allein auf diesen verlassenen Straßen waren im Moment das Letzte, was ich mir vorstellen wollte. Nicht mit diesem Kurz-vor-Mitternacht-Gefühl im Bauch. Ich beschloss, es bei den Bedfields zu versuchen. Eine fünfköpfige, chaotische Familie mit einem Hang dazu, die gleichen T-Shirts anzuziehen, war zwar vielleicht nicht der ideale Wegbegleiter, um sich gemeinsam durch die nebelige Stille zu kämpfen, aber sie wohnten nicht einmal hundert Meter weit die Straße hinunter. Das war meiner Meinung nach im Moment die wichtigste Qualifikation. Einhundert Meter. Das sollte zu schaffen sein. Selbst in dieser weißen Suppe. Ich warf den Ästen vor mir einen misstrauischen Blick zu und machte mich auf den Weg. 

Immer noch war kein einziges Auto zu hören. Kein Hundegebell. Nicht einmal ein Vogelzwitschern. Dieser Nebel schien wirklich jedes Geräusch zu verschlucken. Ich hielt meinen Blick stur geradeaus gerichtet und versuchte, an nichts zu denken, als an das Haus der Bedfields. Nicht daran, warum es an diesem Morgen keine Vögel zu geben schien. Nicht an die unheimlichen Birkenäste über mir. Nur an das Haus.

Und dann tauchte es so plötzlich aus dem Nichts auf, dass ich fast mit der Nase gegen den Gartenzaun geknallt wäre. In diesem Nebel verlor ich offensichtlich auch jedes Gefühl für Entfernungen. 

Ich rannte über den Rasen der Bedfields und schlug wie eine Ertrinkende mit der Faust gegen die Tür. 

WHAMMM

WHAMMM

WHAMMM

Die Schläge klangen laut und fremd in meinen Ohren. Was um alles in der Welt tat ich hier? Niemand, der noch ganz bei Trost war, behandelte so die Haustür seiner Freunde. Ich zog meine Hand eilig zurück und versuchte ein Lächeln, von dem ich hoffte, dass es nicht zu sehr nach „panischer Verrückter" aussah, während ich darauf wartete, dass die Tür geöffnet wurde. 

Komm schon, Liz. Ich weiß, dass du um diese Uhrzeit zu Hause bist. 

Hinter den dunklen Fenstern war allerdings keine Bewegung zu erkennen. Ich klopfte noch einmal, und bemühte ich mich, meinem neuen Motto „nicht wie eine Verrückte“ treu zu bleiben. Ein paar quälend lange Minuten später musste ich erkennen, dass es keine Rolle zu spielen schien, auf welche Art man an diesem Morgen an die Türen klopfte. So oder so wurden sie nicht geöffnet.

Leise fluchend machte ich mich bereit, wohl oder übel nun doch den Rest des Weges bis zu meinem Haus zu laufen, als mir ein Gedanke kam, den ich schon längst hätte haben sollen: Was, wenn dieses Zeug um mich herum gar kein Nebel ist? Gewöhnlicher Nebel würde sich nicht so dermaßen dicht über Hills View legen und schon gar nicht würde er das innerhalb weniger als einer Minute tun, die ich heute Morgen vom Küchenfenster bis zu meiner Haustür benötigt hatte. Was also war dieses Zeug? Mir fiel nur eine Antwort darauf ein, und sie gefiel mir nicht besonders: Gas. Vielleicht hatte es einen Chemieunfall gegeben. Das war dummerweise nicht ganz unwahrscheinlich, denn Fabriken gab es hier in der Gegend genug. 

Ich nahm einen vorsichtigen Atemzug - einer mehr würde nun wohl kaum noch einen Unterschied machen - und konzentrierte mich darauf, irgendeinen Geruch herauszufiltern. Nichts. Das musste allerdings noch nicht viel heißen. Als Ärztin wusste ich, dass es jede Menge geruchlose Stoffe gab, die einen genau so zuverlässig umbringen konnte, wie Blausäure oder Sarin.

Ich tat also, was wohl schon längst fällig war, und verfluchte meine eigene Dummheit. Was hatte ich mir dabei gedacht, einfach in diese Brühe reinzumarschieren? Mich vor Birken zu fürchten ohne an das Offensichtliche zu denken? Ohne Kaffee war ich wirklich völlig neben der Spur. Jeder vernünftige Mensch hätte zuerst seinen Fernseher oder das Radio eingeschaltet, bevor er auch nur einen Fuß in dieses weiße Zeug gesetzt hätte. Vermutlich gab es in diesem Moment auf allen Kanälen schon Live-Berichterstattung mit Hubschraubern, Wetterexperten und jeder Menge guter Tipps, wie man sich schützen konnte. Einer davon war ziemlich sicher, nicht ewig in dem Zeug herumzustehen. 

Ich ging vom Klopfen über zu ein paar kräftigen Tritten gegen die Tür der Bedfields, was allerdings genau so wenig Erfolg brachte. Vermutlich hatten sie sich die Hinweise der Behörden zu Herzen genommen, sich ins obere Stockwerk geflüchtet und die Türen und Fenster so gut wie möglich abgedichtet. Das half natürlich nicht nur gegen Gas, sondern auch gegen den Krach, den ich hier draußen veranstaltete. Ich betrachtete die Tür, die bedauerlicherweise ziemlich solide aussah. Langsam trat ich ein paar Schritte zurück und versuchte mir einzureden, dass es kein Fehler sein würde, meine Schulter in ein massives Stück Holz zu rammen. Dann schloss ich die Augen und lief los.

Die Tür gab mir überraschend bereitwillig nach und ich landete fast ungebremst auf dem Boden des Vorraums. Der Schmerz des Aufpralls nahm meine ganze Welt ein und es dauerte ein paar Minuten, bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Während ich mich auf dem gelb-grün karierten Läufer der Bedfields krümmte, schmerzte mich am meisten der Gedanke, dass ich die Tür ganz einfach hätte öffnen können. Verflucht noch mal, seit wann ließ irgendjemand in Hills View seine Haustür einfach unverschlossen?

Das Erste, das ich wieder klar sehen konnte, waren die Schuhe. Nicht ein Krümel Erde dran. Jeder einzelne war auf Hochglanz geputzt und perfekt aufgereiht – als hätte Liz Bedfield damit gerechnet, dass an diesem Morgen jemand einen knappen Zentimeter davon entfernt in ihrem Vorraum liegen würde. Ich stand auf und unterdrückte ein Stöhnen. Meine Schulter tat immer noch höllisch weh, aber das war etwas, um das ich mich später kümmern würde. Wenn das hier tatsächlich Giftgas war, dann gab es für meine Gesundheit im Moment ganz andere Gefahren als eine geprellte Schulter. Eilig schloss ich die Eingangstür, um nicht noch mehr von dem Zeug ins Haus zu lassen. Die Tür hatte meine Attacke offensichtlich tadellos überstanden und das Schloss schnappte widerspruchslos ein. Obwohl ich mir so lange Zeit gelassen hatte, war im Haus keine Spur von dem weißen Zeug zu sehen. Was auch immer es war, es schien sich also nur träge auszubreiten. Das war es dann aber auch schon mit den guten Nachrichten. Von den Bedfiels war hier drinnen genau so wenig zu sehen wie von dem Nebel.

„Hallo?"

Meine Stimme hallte durch das stille Haus.

„Liz? Jemand zu Hause?“

Keine Antwort. Falls sie sich tatsächlich im oberen Stockwerk aufhielten, dann mussten sie wirklich eine Menge Decken verwendet haben, um den Raum so abzudichten, dass sie mich noch immer nicht hörten. Ich ging in Richtung Treppe, und ein kurzer Blick in das verlassene Wohnzimmer ließ mich verwundert innehalten. Das ganze Zimmer war so perfekt aufgeräumt, als hätten die Bedfields jede Minute den Besuch eines Reporters von einem dieser Hochglanz-Einrichtungsmagazine erwartete. Nirgendwo lag etwas herum, was sich nicht ganz offensichtlich genau an seinem Platz befand. Selbst der Boden glänzte, als wäre er frisch eingelassen worden und dann liebevoll per Hand mit einer sehr feinen Zahnbürste geschrubbt worden. Liz Bedfield hatte drei Kinder, und die brachen für gewöhnlich mit der Kraft eines Tornados über jedes Zimmer herein. Diese Ordnung fühlte sich falsch an. Beängstigend falsch, wenn man bedachte, dass sie alle an diesem Morgen wohl anderes zu tun gehabt hatten, als den Boden zu polieren. 

Ich rief noch einmal nach Liz und ging dann langsam die Stufen hinauf. Es war ein eigenartiges Gefühl, allein in ihrem Haus herumzuschleichen. Zögernd blieb ich vor der Tür stehen, hinter der ich das Schlafzimmer vermutete. 

„Hallo?“ 

Nichts. Vorsichtig klopfte ich an. Immer noch nichts. Was, wenn sie im Schlaf von dem Gas überrascht worden waren? Keine Leichen, oh Gott, bitte keine Leichen! schoss es mir durch den Kopf, und meine Hand zitterte, als ich langsam die Klinke der Tür nach unten drückte. Ein leeres Bett, perfekt gemacht. Der Rest des Raumes gehörte einem riesigen Spiegelschrank, aus dem ich mir selbst blass entgegenblickte. Langsam trat ich näher. Keine Rötungen im Gesicht. Nichts geschwollen. Und auch sonst keine Anzeichen, dass das weiße Zeug mir bereits geschadet hatte. Das änderte allerdings nichts daran, dass mich unendlich müde fühlte. Vorsichtig, um die sorgfältig arrangierten Polster nicht durcheinander zu bringen, ließ ich mich auf den Rand des Betts sinken und griff nach der Fernbedienung am Nachttisch. Auf Durchsagen der Behörden achten, das war es doch, was man in so einer Situation tun musste. 

Es stellte sich allerdings als überraschend schwierig heraus, so etwas wie Nachrichten auf den Bildschirm der Bedfields zu bekommen. Ich arbeitete mich durch eine beeindruckende Auswahl an Spielfilmen, von denen ich eigenartigerweise jeden ziemlich gut kannte. Das fünfte Element. Total Recall. Die Star-Trek-Folge mit den Tribbles. Es war, als würde ich mich durch mein Best-of an Lieblingsfilmen schalten. Was ich nicht auf den Bildschirm bekam, war irgendein Hinweis darauf, was mit Hills View passiert war. Der Fernseher schien sich hartnäckig zu weigern, Nachrichten in irgendeiner Form zu zeigen. Frustriert ließ ich die Fernbedienung neben mir auf das Bett fallen, nur, um sie dann schnell wieder aufzuheben und ordentlich auf dem Nachttisch zu platzieren. Schlimm genug, Liz erklären zu müssen, warum ich auf in ihrem Bett gesessen hatte.

Mittlerweile hatte ich wenig Hoffnung, hier noch einen Hinweis auf die Bedfields zu finden, aber wenn ich schon zurück in das weiße Zeug musste, wollte ich es zumindest nicht unvorbereitet tun. Ich machte mich auf den Weg ins Badezimmer, und als ich die Tür öffnete, bemerkte ich als erstes die Zahnbürsten. Fünf Stück davon lagen am Rand des Waschbeckens – alle exakt gleich ausgerichtet. Entweder hatte Liz ein massives Problem oder … oder mir fiel keine Erklärung dafür ein. Es passte jedenfalls gar nicht zu der fröhlichen, chaotischen Liz, die ich kannte. Wie es aussah, konnte man eine Menge über seine Freunde lernen, wenn man in ihr Haus einbrach. Ich spritze mir etwas kühles Wasser ins Gesicht, gab mir Mühe, mich dadurch ein wenig besser zu fühlen, und öffnete den Spiegelschrank. Er enthielt eine ziemlich typische Auswahl an Medikamenten für eine Familie mit Kindern. Weniger typisch war, dass sie alphabetisch geordnet waren. Zumindest war es so nicht schwer, die Kohletabletten zu finden. Vorsichtig begann ich die Tabletten mit dem Griff einer Haarbürste zu zerstampfen und gab mir Mühe, den feinen Kohlestaub danach sorgfältig wieder vom Waschbecken zu entfernen. Das war wohl das Mindeste, was ich tun konnte, in Anbetracht dessen, was ich nun mit dem Zahnputzbecher vorhatte. Ich entschied mich für „Hello Kitty". 

Mit der Nagelschere war es ziemlich einfach, kleine Löcher in das Plastikgefäß zu bohren und mit Hilfe von ein paar Taschentüchern und meinem Haargummi hielt ich einige Minuten später eine ganz passable Gasmaske in der Hand.

 

Als ich wenig später die Haustür der Befields hinter mir schloss und der Nebel mich einhüllte hätte ich trotz der schicken kleinen Katze auf dem Becher allerdings eine Menge für eine der Masken aus meinem Labor gegeben. Himmel, was war das nur für ein Zeug? Für ein Gas schien es sich - zumindest hier in Bodennähe - wirklich lange zu halten. Ich konnte die Umrisse des VW Kombi der Bedfields in der Einfahrt nur schwach erkennen. Warum hatten die Bedfields ihn nicht benutzt? 

Sekunden später lief ich, keuchend und den Hello-Kitty-Becher fest an mein Gesicht gepresst, die Straße entlang. Wäre mir das Atmen auch nur ein bisschen leichter gefallen, hätte ich geflucht. Wie hatte ich das Naheliegendste übersehen können? Es war eine Katastrophe geschehen, und was würden die Behörden in so einem Fall wohl tun? Natürlich eine großangelegte Evakuierung starten. Mit Bussen, Hubschraubern und jeder Menge professioneller Ausrüstung. Während ich durch den Nebel gelaufen war, hatte vermutlich längst jemand an meine Haustür geklopft, um mich in Sicherheit zu bringen. Ich lief so schnell ich konnte die Straße hinunter, und der Gedanke, dass vielleicht in dieser Minute ein Rettungstrupp vor meinem Haus stand, verlieh mir offensichtlich Flügel. Mein Haus lag drei Blocks weiter die Straße entlang, aber seine Umrisse tauchten viel früher als erwartet vor mir aus dem Nebel auf. 

Von einer Evakuierungsmannschaft war hier nichts zu sehen, doch etwas anderes forderte meine ganze Aufmerksamkeit. Etwas, das sich verändert hatte. Ich öffnete sehr vorsichtig meine Gartentür und kniete mich hin, um mit der Hand über den Rasen zu streichen. Er war frisch gemäht. Auf perfekte, ordentliche drei Zentimeter.

 

 


 

 

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