Das Leben in Wien im Jahr 2095 ist einfach paradiesisch... Die Straßen der KI-optimierten Stadt duften nach Zitrone und Lavendel und selbst die Sonne scheint zu den vorausberechnet idealen Uhrzeiten. Die junge Musikerin Evergreen Ray könnte nicht glücklicher sein - bis zu dem Moment, in dem sie erkennt, dass sie zu viel Glück hat.

 

Was sie sich vornimmt, gelingt - selbst Unmögliches fällt ihr so leicht, dass sie dafür nur eine Erklärung hat: Etwas an ihrem Leben ist  nicht echt …

 

Wie weit ging die Stadt-KI, um das Glück ihrer Bewohner sicherzustellen?

 


 

"Eine großartige Sci-Fi-Entdeckung, die nachdenklich macht. Nicht umsonst wird Caroline Hofstätter längst nicht mehr nur als Geheimtipp gehandelt." www.hallo-buch.de


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1. Ein Augenblick Glück

 

Ich hatte gehört, dass es früher zierliche, kleine Vögel gab, die in der Luft stillstehen konnten. Kolibris hatte man sie genannt. Die Holocams erinnerten mich jedes mal an sie. Als wir die letzte Stufe zur Bühne hochstiegen, umschwirrten die kleinen Dinger uns in einem nervös tänzelnden Geschwader und ihre Rotoren bewegten sich so schnell, dass sie mit bloßem Auge unsichtbar waren. Ich trat an Robins Seite einen Schritt weiter nach vor und der Schwarm teilte sich bereitwillig. Dann erfassten uns die Scheinwerfer. Einen kurzen Moment lang blinzelte ich desorientiert. Trotzdem wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich reckte die Hände mit den Drumsticks in die Höhe, woraufhin vor uns tausende Menschen in tosenden Applaus ausbrachen. Mit schneller klopfendem Herzen machte ich einen Schritt in Richtung meines Schlagzeugs … und … fühlte, wie mir der Traum entglitt.

Schlaftrunken streckte ich mich in der Wärme meines Betts. Der berauschende Klang des Applauses hallte immer noch in mir nach. Knirschend. Pochend. Und … und bei den Göttern, was war das eigentlich für ein Geräusch? 

Das Knirschen wurde lauter und ich riss die Augen auf. Definitiv nicht der übliche Weckruf meiner Wohneinheit. Ein leises Zischen begann, das Knirschen zu begleiten. Eines, das sich verdächtig danach anhörte, als würde gerade meine wöchentliche Lebensmittelration durch die Versorgungsleitungen gleiten. Normalerweise traf die Lieferung um halb acht ein. Brennende Dürre noch mal, wenn es schon so spät war, saß ich ziemlich im Treibsand. 

Einen Herzschlag lang klammerte ich mich an die Hoffnung, dass meine Vorräte aus irgendeinem Grund früher als sonst eingetroffen wären. Die Chancen dafür standen aber zugegebenermaßen schlecht. Diese Lieferungen wurden, wie so ziemlich alles im Wien des Jahres 2095, von künstlichen Intelligenzen optimiert. Und KIs machten keine Fehler. Zumindest nicht bei solchen Dingen.

Während ich die Beine aus dem Bett schwang, aktivierte ich mit einem schnellen Blinzeln nach links unten das Startmenü meines Retinadisplays. Die leicht durchscheinenden Ziffern, die nun in mein Blickfeld eingeblendet wurden, ließen keinen Zweifel daran, dass ich tatsächlich verschlafen hatte. Verdorrt noch mal! Zu spät zu kommen und mir dann für meine Kunden nicht genug Zeit nehmen zu können, war absolut nicht gut fürs Geschäft. Der Analoge Markt jenseits der Empfehlungen der KIs beruhte auf seinen eigenen Gesetzen. Die wichtigste Regel war, sich nicht erwischen zu lassen. Pünktlichkeit stand gleich an zweiter Stelle. 

Ich hastete quer durch den Wohnbereich in Richtung Bad. »Morgenmodus!«, rief ich.

»Einen wundervollen guten Morgen, Anna«, erwiderte die KI meiner Wohneinheit. »Es ist 7 Uhr und 31 Minuten. Du hast heute keine Termine.«

Wie falsch sie lag, ahnte die simple Wohn-KI natürlich nicht. Zum einen war mein Name nicht Anna, und zum anderen hatte ich wie jeden Morgen eine Menge Termine. Allerdings keine von der Sorte, die ich in ihren Kalender eintragen würde. Dennoch hätte sich mein üblicher Weckalarm vor einer halben Stunde aktivieren sollen. Ich wusste allerdings sehr genau, wer das verhindert hatte. 

Ich warf dem kleinen robotischen Hund, der sich in seiner Ladestation platziert hatte, einen vorwurfsvollen Blick zu. »Sowas von nicht grün, Kleiner. Ich bin jetzt echt spät dran!«, wies ich ihn zurecht. 

Dande reagierte darauf mit einem leisen, schuldbewussten Winseln. Dann senkte er den Kopf auf seine Pfoten und sah mich auf eine Art an, der man nur schwer widerstehen konnte. Das Einzige, was ihn äußerlich von einem echten Border Collie unterschied, waren die silbern leuchtenden Augen. Um besonders authentisch zu bleiben, hatte man bei ihm auf die Sprachausgabe verzichtet, und damit war dieser Blick alles, womit er sich entschuldigen konnte.

»Wir klären das nachher, Dande«, sagte ich. Eilig trat ich in die Nische vor mir, die gerade dabei war, sich als Bad zu konfigurieren. Eine Ablage mit meinen Pflegeprodukten und dem Make-up glitt aus der Wand. Die paar Fläschchen füllten das Fach nicht einmal annähernd. Solche Dinge kosteten eine Stange Credits, und ich hatte in der Regel andere Sorgen, als meine Ersparnisse für Beauty-Produkte auszugeben. 

Ich stellte mich unter das warme Wasser, schob mir eine Kapsel mit ZahnreinigungsBots in den Mund und versuchte, ein wenig Zeit wettzumachen. Während dann ein warmer Luftstrom von oben meine Haare trocknete, gab ich mir Mühe, sie möglichst schnell zu etwas Annehmbaren zu bändigen. Es wäre vermutlich einfacher, sie kürzer zu schneiden, aber jedes Mal, wenn ich sie im Spiegel betrachtete, fühlte ich mich durch die Länge mit meiner Mutter verbunden. Sie hatte mir beigebracht, mein dunkles, dichtes Haar als Teil meiner Wurzeln zu sehen und es mit Stolz zu tragen. Kein anständiges indisches Mädchen schneidet sein Haar leichtfertig!, würde sie sagen. Nun, zumindest in diesem Bereich konnte ich anständig bleiben.

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass Dande mir gefolgt war. Er machte neben mir in vorbildlicher Perfektion Platz und sah mich hoffnungsvoll an – eindeutig auf der Suche nach irgendetwas, womit er seinen Übergriff auf meinen Tagesplan wiedergutmachen konnte.

»Kleiner, mit dem Wecker hast du wirklich Mist gebaut«, nuschelte ich mit dem Haargummi zwischen den Zähnen.

Wieder folgte ein schuldbewusstes Winseln als Antwort. Im Grunde hatte ich den Mist natürlich selbst gebaut. Gestern Abend war ich von meiner letzten Tour spät nach Hause gekommen und direkt ins Bett gefallen, ohne daran zu denken, wie besorgt Dande sein würde, wenn meine Nachtruhe so weit unter dem von ihm berechneten Idealwert lag. Ich hätte ahnen müssen, dass er den Weckalarm deaktivieren würde. In letzter Zeit wurde er immer kreativer bei seinen Versuchen, für mein Wohlbefinden zu sorgen. Immerhin hegte er dabei, im Gegensatz zu den Concordia-KIs, keine weiteren Absichten.

Dande hob den Kopf von den Pfoten und beobachtete mich, während ich die Zoomfunktion des Badezimmerspiegels aktivierte, um noch ein wenig Make-up aufzutragen. Trotz aller Eile musste ich mir dafür einen Augenblick nehmen. Meine Kunden erwarteten ein gepflegtes Aussehen. Bei den Preisen, die ich gezwungen war, zu verlangen, auch völlig zurecht.

»Anna, du solltest dir ein leckeres Frühstück gönnen!«, meldete sich in diesem Moment die Kocheinheit zu Wort.

Natürlich war sie nicht von selbst auf den Gedanken gekommen. Bis auf Dande waren die Geräte meiner Wohneinheit reine Basisversionen ohne viel Eigeninitiative. Dande hielt mit einem kontinuierlichen Datenstrom alle Fäden in der Hand. Als einzige ein wenig höher entwickelte KI hatte er naturgemäß die Führung unter ihnen übernommen.

»Ja, ja. Von mir aus. Irgendwas auf die Hand. Ich muss wirklich los.« Ich atmete tief durch. An sich war es ein vernünftiger Vorschlag, etwas zu frühstücken. Mir unterwegs etwas zu beschaffen, wäre allerhöchstens bei einem abgelegenen Snackautomaten möglich. Die falsche ID an meinem Handgelenk bereitete mir in der Regel mindestens genauso viele Probleme, wie sie mir weiterhalf.

»In Vorbereitung: Wrap mit Spirulina Algen«, flötete die Kocheinheit mit einer Stimme, die klang, als hätte ich eben den Hauptgewinn gemacht. Ich verzog unweigerlich das Gesicht. Es war sinnlos, meine anderen Optionen mit der Einheit durchzugehen. Die Lieferung vorhin hatte mit Sicherheit wie immer nichts als Nährstoffpaste, Proteinpulver, Gemüse, wenig Fett und noch weniger Zucker enthalten. Und Algen. Jede Menge Algen. Dank der Empfehlungen der Concordia-KIs wurden sie auch in Wien im großen Stil gezüchtet. 

Eine anständige Palatschinke mit Marillenmarmelade, die selbst einen Morgen wie diesen etwas besser gemacht hätte, war für mich unerreichbar geworden, seit ich in Anna Bergers Leben geschlüpft war. Es war genau meine Art von Glück, dass Anna eine Frau mit einer beachtlichen Liste an Vorerkrankungen gewesen war, was ihr Nutri-Budget ziemlich düster aussehen ließ. Der von den Concordia-KIs empfohlene Ernährungsplan hatte ihr dennoch kein langes Leben in Gesundheit beschert – sonst wäre ihre ID nicht mit ihrem MyCom-Armband an meinem Handgelenk gelandet.

Ich verließ das Bad, schnappte mir aus der Ablage daneben eines meiner beiden Kleider und zog es über. Die Wohneinheit gab in der Zwischenzeit ihr Bestes, ihre knapp zehn Quadratmeter langsam an die Tageskonfiguration anzupassen. Die Betonung lag dabei auf langsam. Gemächlich entfaltete sich vor mir der Tisch, der im Schneckentempo aus seiner Bodenhalterung gefahren kam. Vom Sessel war noch nichts zu sehen. An der Stelle, an der er am Ende stehen würde, befand sich nicht mehr als eine halb geöffnete Luke. Vor allem aber blockierte mir der Tisch auf dem Weg in seine Zielposition den Zugang zu dem Ablagefach, in dem mein Rucksack lag. 

Ich warf Dande einen auffordernden Blick zu. Sofort leuchteten seine Augen auf als Zeichen, dass er verstanden hatte. Der Tisch vor mir legte etwas an Geschwindigkeit zu. An einem Morgen wie diesem nicht mal annähernd ausreichend. »Dande, bei den Göttern, nun mach schon! Ich brauche nur meine Sachen!«

Der Tisch steigerte sein Tempo nochmals, aber berauschend war das Ergebnis nicht. Dande war wie immer nicht bereit, ein Risiko einzugehen. Eine seiner größten Sorgen war, dass ich versehentlich über einen zu plötzlich aufklappenden Einrichtungsgegenstand stolpern könnte. Aus seiner Sicht verständlich. Den Daten des MyCom-Armbands nach, stand ich als Anna Berger schließlich kurz vor meinem 86. Geburtstag. Dass ich tatsächlich gerade mal 18 Jahre alt war, ahnte er genauso wenig, wie die restlichen Geräte meiner Wohneinheit. Bots wie Dande nutzten in der Regel nur den Datenstrom des MyComs zur Identifizierung. Er kannte mich dennoch gut genug, um meine Anspannung zu bemerken. Hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, mich zu beschützen, und seinem Wunsch, mir zu gehorchen, ließ er seinen Kopf unglücklich auf meine Füße sinken. Sein Blick machte deutlich, wie leid ihm das Ganze tat.

»Ist ja gut, Kleiner. Ich weiß, dass du es nur gut gemeint hast. Lass einfach in Zukunft die Pfoten von meinen Alarmsettings, ja?«

Dande erhob sich und stupste mit seiner weichen Schnauze gegen mein Bein, immer noch das wandelnde schlechte Gewissen.

»Öffne mir Regal drei, ja?«, wies ich ihn an, während ich mich zu ihm beugte und kurz durch sein flauschiges schwarz-weißes Fell wuschelte. Im Grunde konnte ich ihm nicht vorwerfen, dass er sich so entschlossen um mich kümmerte. Genau das war schließlich der Kern seiner Programmierung. Als HomeBot war er stets bemüht, zu unterhalten, bei kleinen Tätigkeiten im Alltag zu unterstützen und auf die Gesundheit seines Besitzers zu achten. 

Endlich war der Tisch an seinem Platz und das in die Wand eingelassene Regalfach öffnete sich. Um einiges ordentlicher, als ich sie gestern Nacht hineingeworfen hatte, lagen darin meine Drumsticks, mein Rucksack, der Skizzenblock und meine Stifte. Wie so oft hatte Dande sich um ein bisschen Ordnung gekümmert, während ich geschlafen hatte. 

Ich verstaute die Zeichensachen in der Außentasche des Rucksacks. Etwas Tarnung konnte bei einem Job wie meinem nie schaden. Dande beobachtete mich aufmerksam, ohne zu ahnen, was ich sonst noch eingepackt hatte. Aus seiner Sicht waren es nur ein paar fest verschlossene Behälter, die er nicht anrühren durfte. Rückschlüsse darauf, was sie beinhalteten, konnte er nicht ziehen, solange ich ihm keine Freigabe für einen umfassenderen Sensoreinsatz gab. Er war sich jedoch des Gewichts des Rucksacks bewusst. Während ich diesen aus dem Fach hob, lief er unruhig neben mir auf und ab – bereit einzugreifen, falls mir die paar Kilos zu schwer werden sollten. 

Ich schnappte mir den Algen-Wrap aus dem Ausgabefach der Kocheinheit und zwinkerte ihm zu. Zustimmend wedelte er mit dem Schwanz. Es beruhigte ihn sichtlich, dass ich zumindest nicht mit leerem Magen gehen wollte. Trotz des ganzen Aufwands, den er mit der Konfiguration des Essbereichs betrieben hatte, nahm ich mir jedoch nicht die Zeit, mich zum Essen zu setzen. Ein paar schnelle Bissen im Stehen genügten mir. Spirulina-Wrap aß man ohnehin besser, ohne lange zu zögern. Sobald er auskühlte, schmeckte er ein wenig nach Fisch, der seine besten Tage hinter sich hatte.

Dande begleitete mich mit einem leisen Winseln bis zur Tür. Es gefiel ihm nicht, dass ich mit dem schweren Rucksack ohne ihn das Haus verließ, aber da gab es keine Alternative. Ich wuschelte ihm noch einmal durch sein weiches Fell und machte mit einer knappen Kopfbewegung deutlich, dass er mich auch heute nicht begleiten durfte. Ich musste dort draußen schnell und unauffällig sein, und beides zählte nicht zu seinen Stärken. Anschließend hob ich die Hand, um meiner Tür zu signalisieren, dass ich bereit war, die Wohneinheit zu verlassen. Mit einem sanften Zischen glitt sie zur Seite und ich trat auf den Gang.

»Glück und Regen, Anna! Alles klar bei dir?«, hörte ich von rechts, noch bevor die Tür sich hinter mir geschlossen hatte. Wie immer war Tomer bester Laune. Mir dagegen bereitete es Sorgen, ihm jetzt zu begegnen. Normalerweise machte er sich erst um einiges nach mir auf den Weg zur Arbeit. 

7:41 Uhr zeigte mein Retinadisplay rechts unten an. Das sah nicht gut für mich aus. »Morgen, Tomer. Geht so, muss ja«, erwiderte ich und bemühte mich um ein Lächeln, während ich ihm zunickte. Es war schließlich nicht sein Fehler, dass ich den Tag mit diesem erbärmlichen Algen-Wrap beginnen und mich nun zu einem nicht weniger erbärmlichen Job auf den Weg machen musste. Genauso wenig konnte ich ihm vorwerfen, dass er nicht ahnte, in welcher Gefahr wir alle schwebten, und wie wichtig es war, dass ich unerkannt blieb. Zumindest so lange, bis ich eine Möglichkeit gefunden hatte, der Welt davon zu erzählen.

Wir schritten den Gang entlang und Tomer trat neben mir in den Aufzug. Er lächelte. Freundlich. An seinen Mitmenschen interessiert. Quasi ein Poster-Boy für korrektes soziales Verhalten. 

Ich dagegen blickte schweigend auf meine Schuhe und fürchtete einen weiteren Versuch, mit mir ins Gespräch zu kommen. Wenn man in das Leben einer anderen geschlüpft war, wurde Small Talk zu einem Risiko, das man am besten vermied. 


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